von Dr. Benno Kirsch
Den folgenden Text hat uns der Autor freundlicherweise zur Veröffentlichung überlassen.Die Familie meines Vaters flüchtete 1945 vor der Roten Armee nach Westen – und konnte nicht mehr zurück in die schlesische Heimat. Die Familie meiner Mutter wurde 1946 aus der CSSR vertrieben. Über Flucht und Vertreibung wurde bei uns nicht viel geredet. Trotzdem spürt man die Folgen bis heute.
Flucht und Vertreibung – dieses Begriffspaar ist für mich keine leere Floskel, sondern beschreibt einen nicht unwesentlichen Teil meiner Familiengeschichte. Ich selber bin zwar weder geflüchtet noch wurde ich vertrieben, aber obwohl beide Erfahrungen in meinem Alltag keine Rolle spielen, tauchen sie immer wieder auf. Es ist die Geschichte meiner Eltern, die auch meine Geschichte ist. Und meine Eltern mussten vor vielen Jahren, am Ende des Krieges und kurz darauf, ihre Heimat verlassen.
Die Familie meines Vaters stammt aus Oberschlesien. Mein Großvater Hugo wurde in Grottkau (Grodków) geboren (das ist 50 Kilometer westlich von Oppeln/Opole), Großmutter Margarete in Laurahütte-Siemianowitz (6 Kilometer nördlich von Kattowitz), mitten im oberschlesischen Kohlerevier. Die Stadt fiel nach dem Ersten Weltkrieg an Polen, und vermutlich aus diesem Grund zog die Familie nach Hindenburg (Zabrze) um. Hier lernte Margarete Hugo kennen, der bei der Schutzpolizei arbeitete. Sie heirateten 1933. 1936 wechselte Hugo zur Gendarmerie und wurde in den Landkreis Rothenburg versetzt (Oberlausitz).
Die Familie meiner Mutter stammt aus dem sogenannten Sudetenland. Aber die Bezeichnung ist ungenau: Großvater Karl kam im habsburgischen Teil Schlesiens zur Welt, Großmutter Elisabeth in Mähren. Weil Karl schon in seiner Jugend ein Bein amputiert worden war, konnte er das Abitur machen und in Prag an der Deutschen Technischen Hochschule Ingenieurswesen studieren. 1938 heiratete er Elisabeth und zog 1941 mit der Familie nach Leutensdorf (Litvínov) in Nordböhmen, wo er eine Stelle in der Bergbauindustrie antreten konnte.
Hugo nahm 1939 als Wehrpflichtiger am deutschen Überfall auf Polen teil, von wo er 1940 wieder heimkehrte und seinen Beruf in der Gendarmerie wiederaufnahm. 1942 wurde er ins „Reichskommissariat Ukraine“ abgeordnet, also zur von den deutschen Besatzern eingerichteten Zivilverwaltung, und tat auf einem Posten am Südlichen Bug seinen Dienst. 1944 verließ er die Ukraine mit der sich zurückziehenden Wehrmacht und war zum Jahreswechsel 1944/45 wieder zuhause. Wenig später musste er an die Front, wurde in der „Festung Glogau“ von einem Granatsplitter am Bein getroffen und starb im Juni 1945 in einem Lazarett, weil sich die Wunde entzündet hatte.
Während Hugo einen aussichtslosen Kampf kämpfte, schloss sich Margarete mit ihren drei Kindern und ihrer Schwester mit ihren Kindern dem anschwellenden Flüchtlingsstrom „aus dem Osten“ an. Man hatte Angst vor der Roten Armee. Es gelang ihnen, Plätze in einem Militärzug zu ergattern, der sie nach Cottbus brachte. Eigentlich wollte sie nach Dresden, doch Dresden war durch die vielen Flüchtlinge blockiert. An diesem Morgen wurde der überfüllte Hauptbahnhof von amerikanischen Bombern angegriffen, die ursprünglich das Hydrierwerk in Schwarzheide zum Ziel hatten. Bei diesem Angriff starb Klaus, mit gerade einmal vier Jahren der Jüngste, durch eine Luftmine.
Die Überlebenden musste wieder raus aus Cottbus; am Ende strandete man in einem Dorf im Fichtelgebirge, das wenig später zur amerikansichen Besatzungszone gehören sollte. Hier blieb die Familie für ein gutes Jahr. In dieser Zeit machte sich eines der halbwüchsigen Mädchen auf, um die Rückkehrmöglichkeit in die Heimat zu prüfen – doch der Weg war verschlossen. Daraufhin bemühte sich Margarete erfolgreich um eine Genehmigung zum Umzug nach Hessen. Sie ließ sich in der Nähe der Stadt nieder, in der ich später aufgewachsen bin. Sie lebte dort noch lange in bescheidenen Verhältnissen. 1958 heiratete sie ihren inzwischen verwitweten Vermieter, der für mich zum Großvater wurde.
Die Familie meiner Mutter flüchtete nicht. Sie wurde vertrieben. Die Tschechoslowakei war bei Kriegsende unbesetzt und wurde durch die 1945 ins Amt gekommene Regierung von Edvard Beneš einer „ethnischen Säuberung“ unterzogen. 1946 kamen Karl, Elisabeth und die Kinder für mehrere Wochen in ein Lager und wurden im Mai in einem Viehwaggon außer Landes geschafft. Sie durften nur wenige Habseligkeiten mitnehmen, konnten aber wählen, in welche Besatzungszone sie gebracht werden. Man entschied sich für die amerikanische und gelangte so nach Mittelhessen. Hier lebten sie in großer Armut, denn Karl war mehrere Jahre arbeitslos, bis er eine Anstellung als Hilfsarbeiter fand. Später erhielt er eine etwas bessere Stelle in Südhessen, weshalb die Familie wieder umzog. Während Karl und Elisabeth auch später noch immer in bescheidenen Verhältnissen lebten und ihrer verlorenen Heimat nachtrauerten, beschäftigten sich die Kinder mit allem möglichen, aber nicht mit der Vergangenheit.
Meine Eltern waren noch Kinder, als sie ihre Heimat verlassen mussten. Mein Vater war sechs, meine Mutter fünf Jahre alt. Kinder sind in der Lage, schlimme Erfahrungen gut zu verarbeiten. Dennoch glaube ich, dass die Erfahrung von Flucht und Vertreibung meine Eltern geprägt hat. Ob sie dieses Trauma an mich weitergegeben haben, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass die Folgen auch heute noch zu spüren sind: Es schmerzt das Fehlen einer Familientradition, einer Verbindung mit den Vorfahren über Grundbesitz, dem Eingebettetsein in eine dörfliche Geschichte oder Dokumente und Fotos. Wenn Freunde von ihrer Herkunft erzählen, die sich über Generationen hinweg an einem Ort abgespielt hat, bin ich immer ein bisschen neidisch.
Über Krieg, Flucht und Vertreibung wurde in meiner Familie fast überhaupt nicht gesprochen. Woran das liegt, weiß ich nicht. Gibt es etwas, das man vertuschen wollte? Eher nicht. Sicherlich wollte man lieber nicht wissen, was Hugo in der Ukraine getan hatte, weshalb man sich vor allem Klaus‘ erinnerte. Von Margaretes zweitem Ehemann war bekannt, dass er über Hitler nie ein schlechtes Wort verloren hatte, aber von einer darüber hinausgehenden NS-Belastung ist in der Familie wenig zu erkennen. Insofern waren es wohl nicht Schuldgefühle, die die Vergangenheit zu einem Nicht-Thema gemacht haben. Sicher ist nur: Meine Eltern und ihre Geschwister wollten nie zurück in eine Heimat, die sie kaum kannten. Die Bundesrepublik war ihre neue Heimat geworden.